Prävention 8. Dezember 2025 8 Min. Lesezeit

Vitamin D im Winter - Hype oder Notwendigkeit?

Im Herbst beginnt in meiner Praxis jedes Jahr das gleiche Gespraech: Soll ich Vitamin D nehmen? Die Frage ist berechtigt - und die Antwort komplizierter, als viele denken.

Vitamin D im Winter - Hype oder Notwendigkeit?

Das Problem

Im Herbst beginnt in meiner Praxis jedes Jahr das gleiche Gespräch. "Herr Doktor, soll ich Vitamin D nehmen?" Die Frage ist berechtigt - und die Antwort komplizierter, als viele denken.

Deutschland liegt zwischen dem 47. und 55. Breitengrad. Das bedeutet: Von Oktober bis März steht die Sonne so tief, dass unsere Haut praktisch kein Vitamin D bilden kann. Egal wie lange Sie draußen sind. Die UV-B-Strahlung reicht schlicht nicht aus.

Die Zahlen des Robert Koch-Instituts sind eindeutig: Etwa 60 Prozent der Deutschen erreichen nicht die wünschenswerte Vitamin-D-Versorgung. Im Winter steigt dieser Anteil noch weiter an.

Was sagt die Wissenschaft?

Hier wird es interessant - und unübersichtlich. Die Studienlage zu Vitamin D ist enorm, aber nicht immer eindeutig.

Was als gesichert gilt: Vitamin D ist essentiell für den Knochenstoffwechsel. Ein schwerer Mangel führt bei Kindern zu Rachitis, bei Erwachsenen zu Osteomalazie. Das ist unstrittig und seit über 100 Jahren bekannt.

Was die Evidenz stark unterstützt: Große Metaanalysen zeigen, dass Vitamin-D-Supplementierung bei älteren Menschen das Sturzrisiko und die Frakturrate senken kann - allerdings nur in Kombination mit ausreichend Calcium. Die Cochrane Collaboration hat dies in mehreren systematischen Reviews bestätigt.

Wo die Forschung noch uneins ist: Bei vielen anderen Erkrankungen - Krebs, Herz-Kreislauf, Autoimmunerkrankungen, Depressionen - gibt es zwar Hinweise auf Zusammenhänge, aber die großen Interventionsstudien liefern widersprüchliche Ergebnisse. Die VITAL-Studie mit über 25.000 Teilnehmern fand keinen signifikanten Schutz vor Krebs oder Herzerkrankungen durch Vitamin-D-Supplementierung.

Das heißt nicht, dass Vitamin D dort unwirksam ist. Es heißt nur: Wir können es noch nicht sicher sagen.

Die Grauzone - Was die offiziellen Stellen sagen

Interessant ist der Unterschied zwischen verschiedenen Fachgesellschaften. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt 800 IE täglich bei fehlender Eigenproduktion.

Die Endocrine Society in den USA setzt die Grenze höher: 1.500 bis 2.000 IE für Erwachsene, mit dem Hinweis, dass manche Menschen deutlich mehr benötigen.

Warum dieser Unterschied? Die DGE fokussiert sich auf die Knochengesundheit und setzt den Zielwert bei 20 ng/ml im Blut. Viele Experten halten 40-60 ng/ml für optimal. Um diesen Wert zu erreichen, brauchen die meisten Menschen mehr als 800 IE täglich.

Was ich in der Praxis sehe

In meiner Hausarztpraxis messe ich bei vielen Patienten den Vitamin-D-Spiegel. Was ich dabei sehe:

  • Im Winter haben etwa 80 Prozent einen Wert unter 30 ng/ml
  • Viele liegen sogar unter 20 ng/ml - das gilt als manifester Mangel
  • Besonders betroffen: ältere Menschen, Pflegeheimbewohner, Menschen mit dunkler Hautfarbe, Schichtarbeiter

Was mich nachdenklich macht: Einige Patienten mit chronischer Müdigkeit, diffusen Muskelschmerzen oder Infektanfälligkeit verbessern sich deutlich nach Vitamin-D-Ausgleich. Ist das Placebo? Ein Teil vielleicht. Aber ich sehe es zu oft, um es zu ignorieren.

Meine Empfehlung

Nach allem, was ich gelesen, gelernt und in der Praxis erlebt habe: Ja, eine Vitamin-D-Supplementierung ist für die meisten Menschen in Deutschland sinnvoll. Nicht als Wundermittel, aber als vernünftige Basisversorgung.

Meine konkrete Empfehlung:

  • 2.000 bis 4.000 IE täglich, das ganze Jahr über
  • Eine Messung des Vitamin-D-Spiegels ist sinnvoll, aber nicht zwingend erforderlich
  • Zielwert: 40-60 ng/ml (optimal nach aktueller Studienlage)

Noch ein praktischer Tipp: Vitamin D ist fettlöslich. Nehmen Sie es zu einer Mahlzeit ein, die etwas Fett enthält - oder, wie ich es selbst mache, zusammen mit einem Omega-3-Öl. Das verbessert die Aufnahme und Sie schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Zu Omega-3-Fettsäuren werde ich in einem zukünftigen Artikel noch ausführlicher schreiben.

Zur K2-Frage: Viele Präparate kombinieren Vitamin D mit Vitamin K2. Ehrlich gesagt kann ich dazu keine klare Empfehlung geben. Die Studienlage ist dünn, ein Schaden ist nicht zu erwarten - aber die Kombipräparate sind oft deutlich teurer. Wer sparen möchte, kann auch reines Vitamin D nehmen.

Bei den Produkten: Ich habe gute Erfahrungen mit Tropfenpräparaten gemacht. Sie sind gut dosierbar und oft günstiger als Kapseln.

Fazit

Vitamin D im Winter - Hype oder Notwendigkeit? Meine Antwort: Beides ein bisschen.

Der Hype um Vitamin D als Allheilmittel ist übertrieben. Wer einen normalen Vitamin-D-Spiegel hat, wird nicht automatisch gesünder, wenn er noch mehr nimmt.

Aber die Notwendigkeit ist real: Die meisten Menschen in Deutschland sind unterversorgt, besonders im Winter. Eine maßvolle Supplementierung von 2.000 bis 4.000 IE täglich ist sicher, günstig und nach aktuellem Wissensstand sinnvoll.

Was ich mir wünsche: Weniger Schwarz-Weiß-Denken. Vitamin D ist weder das Wundermittel, als das es manche verkaufen, noch der Unsinn, als den es andere abtun. Es ist ein wichtiges Vitamin, bei dem viele Menschen in unserem Breitengrad Unterstützung brauchen.


Quellen

  1. Robert Koch-Institut: FAQ Vitamin D. RKI, 2019.
  2. Bischoff-Ferrari HA, et al.: Vitamin D supplementation for prevention of fractures. Cochrane Database of Systematic Reviews, 2014.
  3. Manson JE, et al.: Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease (VITAL Study). New England Journal of Medicine, 2019.
  4. Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Referenzwerte Vitamin D. DGE, 2012.
  5. Holick MF, et al.: Evaluation, Treatment, and Prevention of Vitamin D Deficiency: an Endocrine Society Clinical Practice Guideline. Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, 2011.

Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine ärztliche Beratung. Bei Unsicherheiten oder bestehenden Erkrankungen sprechen Sie bitte mit Ihrem Arzt.

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Dr. med. Jan Sturm

Dr. med. Jan Sturm

Facharzt für Allgemeinmedizin, Betriebsmediziner und Ernährungsmediziner

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