Was dein Hausarzt dir nicht sagt - aus Zeitmangel
7 Minuten pro Patient. In dieser Zeit kann ich vieles nicht erklären, was wichtig wäre. Hier hole ich das nach.
Es ist Montagnachmittag, 15:47 Uhr. Im Wartezimmer sitzen noch acht Patienten. Die Sprechstunde sollte eigentlich um 16:00 Uhr enden, aber das wird nichts.
Gerade sitzt Herr M. vor mir. Er hat erhöhte Blutdruckwerte, ich habe ihm ein Medikament verschrieben. Er fragt: "Muss ich das jetzt für immer nehmen?"
Eine einfache Frage. Die ehrliche Antwort würde zehn Minuten dauern. Ich habe zwei.
Was ich gerne sagen würde
Ich würde gerne erklären, dass "für immer" nicht stimmt. Dass viele Menschen ihren Blutdruck durch Lebensstiländerungen normalisieren können. Dass das Medikament ein Werkzeug ist, keine lebenslange Fessel.
Ich würde gerne über Salz sprechen, über Bewegung, über Stress. Über die Mechanismen, warum der Blutdruck steigt. Über die Studien, die zeigen, was wirklich hilft.
Stattdessen sage ich: "Erstmal ja. Wir schauen in drei Monaten, wie es läuft."
Es ist nicht gelogen. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Die zehn Dinge, die oft ungesagt bleiben
1. Viele Beschwerden verschwinden von allein
Ihr Körper ist erstaunlich gut darin, sich selbst zu heilen. Die meisten Erkältungen, Rückenschmerzen und Magen-Darm-Infekte heilen ohne jede Behandlung. Manchmal ist das Beste, was ich tun kann: Ihnen sagen, dass Sie nichts tun müssen.
2. Mehr ist nicht immer besser
Mehr Untersuchungen bedeuten nicht automatisch bessere Gesundheit. Jede Untersuchung kann falsch-positive Befunde liefern - Auffälligkeiten, die sich als harmlos herausstellen, aber Angst und weitere Untersuchungen nach sich ziehen.
3. Medikamente sind keine Lösung, sondern ein Werkzeug
Blutdrucksenker senken den Blutdruck. Sie heilen nicht die Ursache. Bei vielen Menschen ist die Ursache Bewegungsmangel, Übergewicht oder Stress. Das Medikament behandelt das Symptom, während Sie (hoffentlich) an der Ursache arbeiten.
4. Sport wirkt besser als viele Medikamente
Bei leichter bis mittlerer Depression ist Bewegung genauso wirksam wie Antidepressiva - ohne Nebenwirkungen. Bei Diabetes Typ 2 kann Sport im Frühstadium die Erkrankung zurückdrängen. Bei Rückenschmerzen ist Bewegung die beste Therapie.
Das sage ich in der Praxis oft. Was ich nicht sagen kann: Wie Sie das konkret umsetzen. Welche Sportart zu Ihnen passt. Wie Sie Ausreden überwinden.
5. Ich weiß nicht alles
Medizin ist komplex. Manchmal kenne ich die Antwort nicht. Manchmal gibt es keine klare Antwort. Die Wissenschaft entwickelt sich weiter, und was gestern richtig war, kann morgen überholt sein.
6. Ihre Selbstwahrnehmung ist wichtig
Sie kennen Ihren Körper besser als ich. Wenn Sie sagen "Irgendwas stimmt nicht", nehme ich das ernst - auch wenn ich bei der Untersuchung nichts finde. Manchmal braucht es Zeit, bis sich eine Erkrankung zeigt.
7. Vorsorge hat Grenzen
Nicht jede Vorsorgeuntersuchung ist sinnvoll. Manche finden zwar etwas, aber das Gefundene hätte Ihnen nie Probleme gemacht. Schilddrüsenknoten zum Beispiel haben viele Menschen - die wenigsten werden je davon erfahren, und das ist auch gut so.
8. Das Internet ist nicht Ihr Feind
Ich freue mich, wenn Patienten informiert in die Praxis kommen. Ja, im Internet steht viel Unsinn. Aber auch viel Nützliches. Fragen Sie ruhig: "Ich habe gelesen, dass... Stimmt das?"
9. Ich behandle Menschen, keine Laborwerte
Ein erhöhter Cholesterinwert ist nicht automatisch ein Problem. Ein normaler Wert ist nicht automatisch Entwarnung. Der Kontext zählt: Ihr Alter, Ihre Vorgeschichte, Ihre anderen Risikofaktoren.
10. Manche Dinge brauchen Zeit
Der Körper heilt nicht auf Knopfdruck. Antibiotika wirken nicht sofort. Physiotherapie braucht Wochen. Medikamente müssen sich einpegeln. Geduld ist manchmal die beste Medizin.
Warum ich das nicht alles sage
Nicht weil ich nicht will. Sondern weil das System es nicht hergibt.
Die Krankenkasse zahlt eine Pauschale pro Quartal und Patient - egal ob ich Sie einmal oder zehnmal sehe, egal ob das Gespräch fünf oder dreißig Minuten dauert. Der ökonomische Druck, möglichst viele Patienten pro Tag zu sehen, ist real.
Das ist keine Beschwerde. Es ist eine Erklärung. Und ein Grund, warum ich diesen Blog schreibe.
Was Sie tun können
Kommen Sie mit Fragen. Schreiben Sie sie auf, bevor Sie in die Praxis kommen. Fragen Sie nach: "Muss ich das Medikament nehmen? Gibt es Alternativen? Was kann ich selbst tun?"
Und lesen Sie hier weiter. Was in sieben Minuten nicht passt, passt in einen Blogartikel.
Dr. med. Jan Sturm
Facharzt für Allgemeinmedizin, Betriebsmediziner und Ernährungsmediziner
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