Warum Ärzte keine Zeit haben - ein Blick hinter die Kulissen
Ein Blick hinter die Kulissen: Warum das Wartezimmer voll ist und das Gespräch trotzdem kurz.
"Der Arzt hat ja nie Zeit."
Diesen Satz höre ich oft. Und er stimmt. Meistens.
Aber warum ist das so? Die Antwort ist komplexer als "Ärzte sind faul" oder "Es gibt zu wenige Ärzte" (obwohl Letzteres auch stimmt).
Wie ein Hausarzt bezahlt wird
Hier wird es unübersichtlich, aber wichtig.
Als Kassenarzt bekomme ich kein Gehalt. Stattdessen bekomme ich von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Geld für meine Arbeit - pro Quartal und Patient.
Das funktioniert so: Für jeden gesetzlich versicherten Patienten, der in einem Quartal zu mir kommt, erhalte ich eine Pauschale. Diese Pauschale heißt "Versichertenpauschale" und beträgt ungefähr 40-60 Euro - je nach Alter des Patienten und Region.
Egal ob der Patient einmal oder zehnmal kommt. Egal ob das Gespräch fünf Minuten oder eine Stunde dauert. Die Pauschale bleibt gleich.
Was das in der Praxis bedeutet
Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Restaurant. Sie bekommen pro Gast 50 Euro - egal ob er nur einen Kaffee trinkt oder ein Fünf-Gänge-Menü isst.
Was würden Sie tun? Wahrscheinlich würden Sie versuchen, möglichst viele Gäste schnell durchzuschleusen. Das Fünf-Gänge-Menü lohnt sich wirtschaftlich nicht.
Genau so funktioniert das System. Es belohnt Quantität, nicht Qualität. Es belohnt schnelle Kontakte, nicht ausführliche Gespräche.
Die Rechnung eines typischen Quartals
Eine Hausarztpraxis mit einem Arzt betreut etwa 800 bis 1.200 Patienten pro Quartal. Bei durchschnittlich 50 Euro Pauschale sind das 40.000 bis 60.000 Euro Einnahmen.
Davon gehen ab: - Miete - Personal (mindestens 2-3 medizinische Fachangestellte) - Geräte und Material - Versicherungen - IT und Software - Fortbildungen - Und noch einiges mehr
Was übrig bleibt, ist das Arztgehalt. Das ist solide, aber weit entfernt von den Klischees über reiche Ärzte.
Der Hamsterrad-Effekt
Um wirtschaftlich zu arbeiten, muss eine Praxis viele Patienten sehen. Mehr Patienten bedeuten mehr Pauschalen. Mehr Pauschalen bedeuten mehr Einnahmen.
Aber mehr Patienten bedeuten auch weniger Zeit pro Patient.
Es entsteht ein Teufelskreis: 1. Wenig Zeit pro Patient 2. Weniger gründliche Anamnese 3. Mehr Unsicherheit 4. Mehr Überweisungen und Untersuchungen 5. Patient muss öfter kommen 6. Noch weniger Zeit
Was noch dazukommt: Bürokratie
Ein erheblicher Teil meiner Arbeitszeit geht für Verwaltung drauf: - Arztbriefe schreiben - Befunde einholen und lesen - Formulare ausfüllen (Krankschreibungen, Überweisungen, Verordnungen, Reha-Anträge...) - Abrechnungen erstellen - Qualitätsmanagement-Dokumentation - Datenschutz-Dokumentation - Und seit Neuestem: Digitalisierung (ePA, E-Rezept, TI...)
Schätzungen gehen davon aus, dass 30-40% der ärztlichen Arbeitszeit für Bürokratie draufgeht. Zeit, die für Patienten fehlt.
Warum ändert sich nichts?
Das System ist träge. Änderungen am Vergütungssystem sind politisch schwierig. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Krankenkassen, das Bundesgesundheitsministerium - alle haben unterschiedliche Interessen.
Außerdem: Das System funktioniert. Irgendwie. Die Versorgung bricht nicht zusammen. Patienten werden behandelt. Dass die Qualität der Gespräche leidet, ist schwer messbar.
Was Patienten tun können
- Kommen Sie vorbereitet: Schreiben Sie Ihre Fragen vorher auf. Was ist Ihr Hauptanliegen? Was möchten Sie auf jeden Fall ansprechen?
- Seien Sie ehrlich: Je genauer Sie Ihre Symptome beschreiben, desto weniger muss ich nachfragen.
- Fragen Sie nach: Wenn Sie etwas nicht verstanden haben, sagen Sie es. Besser kurz nachfragen als mit Unsicherheit nach Hause gehen.
- Nutzen Sie die richtigen Kanäle: Nicht alles braucht einen Arztbesuch. Viele Fragen lassen sich telefonisch oder per E-Mail klären.
Was ich mir wünschen würde
Eine Vergütung, die Gesprächszeit honoriert. Die Zeit für Prävention belohnt. Die Qualität misst statt Quantität.
Es gibt Ansätze in diese Richtung. Hausarztverträge (Hausarztzentrierte Versorgung, HZV) bieten etwas bessere Konditionen. Aber der große Wurf fehlt.
Bis dahin mache ich das Beste aus dem System. Und schreibe hier, was in sieben Minuten nicht passt.
Dr. med. Jan Sturm
Facharzt für Allgemeinmedizin, Betriebsmediziner und Ernährungsmediziner
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