Betriebsärzte: Warum sie wichtiger sind als viele denken
Betriebsmedizin hat ein Imageproblem. Dabei ist sie wichtiger denn je.
"Der Betriebsarzt? Der macht doch nur Einstellungsuntersuchungen."
Diesen Satz höre ich oft. Und er zeigt: Die Betriebsmedizin hat ein Imageproblem.
Als Facharzt für Allgemeinmedizin mit der Zusatzbezeichnung Arbeitsmedizin sehe ich täglich, wie wichtig betriebsärztliche Betreuung ist. Und wie unterschätzt.
Was Betriebsärzte wirklich tun
Arbeitsplatzbegehungen
Wir schauen uns an, wo und wie Menschen arbeiten. Sind die Arbeitsplätze ergonomisch? Gibt es Lärm, Staub, chemische Belastungen? Wird mit gefährlichen Stoffen gearbeitet?
Das klingt langweilig. Ist es nicht. Bei diesen Begehungen finden wir Dinge, die niemand auf dem Schirm hatte. Fehlhaltungen, die nach Jahren zu Rückenproblemen führen. Lärmpegel, die schleichend das Gehör schädigen. Stress-Hotspots, an denen die Krankenstände überdurchschnittlich hoch sind.
Vorsorgeuntersuchungen
Ja, auch die. Aber nicht als Gatekeeper ("Darf der arbeiten?"), sondern als Berater ("Wie bleibt der gesund bei seiner Arbeit?").
Bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge geht es darum, arbeitsbedingte Gesundheitsgefährdungen früh zu erkennen. Hörschäden bei Lärmarbeit. Hautprobleme bei Feuchtarbeit. Atemwegsprobleme bei staubiger Tätigkeit.
Wiedereingliederung
Wenn jemand länger krank war, ist die Rückkehr an den Arbeitsplatz oft schwierig. Schafft er die Belastung? Muss etwas angepasst werden?
Hier vermitteln wir zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Wir kennen beide Seiten. Wir können Lösungen vorschlagen, die medizinisch sinnvoll und praktisch umsetzbar sind.
Psychische Gesundheit
Burnout, Depression, Angsterkrankungen - psychische Erkrankungen sind inzwischen die häufigste Ursache für Langzeitkrankschreibungen.
Betriebsärzte sehen früh, wenn etwas schief läuft. Wir können Gesprächsangebote machen, bevor es zum Zusammenbruch kommt. Und wir können auf strukturelle Probleme hinweisen - denn oft liegt es nicht am einzelnen Menschen, sondern an der Arbeitsorganisation.
Warum das für Unternehmen wichtig ist
Die Rechnung
Ein durchschnittlicher Krankheitstag kostet ein Unternehmen etwa 300-500 Euro (je nach Branche und Position). Das sind direkte Kosten (Lohnfortzahlung) plus indirekte Kosten (Produktivitätsverlust, Vertretung, Qualitätsprobleme).
Wenn betriebsärztliche Maßnahmen Krankheitstage verhindern, rechnet sich das schnell.
Prävention statt Reparatur
Es ist immer billiger, Gesundheit zu erhalten, als Krankheit zu behandeln. Das gilt für die Gesellschaft insgesamt und für jedes einzelne Unternehmen.
Ein ergonomischer Bürostuhl kostet 500 Euro. Ein Bandscheibenvorfall kostet Monate Arbeitsausfall plus jahrelange Folgekosten.
Fachkräftemangel
In Zeiten des Fachkräftemangels ist Mitarbeitergesundheit ein Wettbewerbsvorteil. Wer seine Leute gesund hält, muss weniger neu einstellen.
Was gute betriebsärztliche Betreuung ausmacht
Präsenz
Ein Betriebsarzt, der einmal im Jahr für zwei Stunden kommt, kann nicht viel bewirken. Gute Betreuung braucht regelmäßige Präsenz, Kenntnis des Unternehmens und der Menschen.
Vertrauen
Beschäftigte müssen vertrauen können, dass ihre Informationen nicht gegen sie verwendet werden. Ärztliche Schweigepflicht gilt auch für Betriebsärzte - gegenüber dem Arbeitgeber genauso wie gegenüber Dritten.
Gestaltungswille
Ein Betriebsarzt, der nur abhakt, hat seinen Beruf verfehlt. Gute Arbeitsmedizin bedeutet: Probleme erkennen, benennen und Lösungen vorschlagen.
Unabhängigkeit
Der Betriebsarzt wird vom Arbeitgeber bezahlt, aber er arbeitet nicht für den Arbeitgeber. Er arbeitet für die Gesundheit der Beschäftigten. Diese Unabhängigkeit ist entscheidend.
Die Zukunft der Arbeitsmedizin
Die Arbeitswelt verändert sich. Homeoffice, Digitalisierung, flexible Arbeitszeiten, demografischer Wandel - all das stellt neue Anforderungen an die Arbeitsmedizin.
Neue Herausforderungen
- Psychische Belastungen nehmen zu. Die Arbeit wird verdichteter, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. - Ältere Belegschaften brauchen andere Maßnahmen als junge. Wie hält man 60-Jährige gesund und arbeitsfähig? - Homeoffice ist medizinisches Neuland. Ergonomie am Küchentisch? Psychische Belastung durch Isolation?
Chancen
Gleichzeitig bieten sich Chancen. Digitale Tools für Gefährdungsbeurteilungen. Telemedizin für betriebsärztliche Beratung. Datenanalysen, die Muster in Krankenständen erkennen.
Mein Appell
An Arbeitgeber: Sehen Sie den Betriebsarzt nicht als lästige Pflicht, sondern als Partner. Nutzen Sie sein Wissen.
An Arbeitnehmer: Scheuen Sie sich nicht, den Betriebsarzt anzusprechen. Er ist für Sie da, nicht für Ihren Chef.
An die Politik: Stärken Sie die Arbeitsmedizin. Nicht durch mehr Bürokratie, sondern durch bessere Rahmenbedingungen.
Die Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung ist eine Ressource, die wir schützen müssen. Betriebsärzte spielen dabei eine Schlüsselrolle - auch wenn das viele nicht wissen.
Dr. med. Jan Sturm
Facharzt für Allgemeinmedizin, Betriebsmediziner und Ernährungsmediziner
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